Fünfter Dezember

Josephine

Heute würde ein guter Tag werden, das hatte Josephine im Gefühl. Sie war in aufgeräumter Stimmung erwacht und hatte noch eine halbe Stunde im Bett gelegen. Ihre Haushaltshilfe klapperte bereits in der Küche mit dem Geschirr, doch sie dachte nicht ans Aufstehen, steckte stattdessen die Nasenspitze unter der Decke hervor und betrachtete die Eisblumen an der Fensterscheibe. Irgendwann wurde ihr aber doch langweilig und weil bereits der Geruch nach frisch gebrühtem Kaffee durch die Räume zog, sprang sie aus dem Bett.

Nach dem Frühstück warf sie ihren dunkelroten Wollmantel über, verabschiedete sich von Mrs Delaney und machte sich über die enge Treppe auf den Weg nach unten. „Auf zur zwölften Tat des Herakles“, dachte sie auch dieses Mal. Immer, wenn sie ihre kleine Wohnung unter dem Dach des vierstöckigen Hauses verließ, fühlte sie sich wie der griechische Held, der in die Unterwelt hinabstieg. Von Stockwerk zu Stockwerk wurden die Verhältnisse schlechter. Die Nachbarn direkt unter ihr waren noch am besten dran: Der Mann hatte eine Anstellung im Hafen, während seine Frau die Kinder alleine hütete, wovon eines unerzogener war als das andere. Im zweiten Stock teilten sich zwei Familien eine Wohnung und lebten dort in Schichten. Wenn man das Pech hatte, seine Behausung sehr früh am Morgen verlassen zu müssen, stolperte man auf dem Weg nach unten über eine ältere Dame, die von der siebenköpfigen Familie aus der ersten Etage ins Treppenhaus ausquartiert worden war. Meine Version des Zerberus, dachte Josephine spöttisch, denn nach dem ersten Stock gelangte man zwar zur Haustür, doch die Hölle, die sich im Keller, den Eingeweiden des Hauses, auftat, ließ sich anhand des Geruchs und des Gelärms erahnen. Sie hielt die Luft an, nahm die letzten drei Stufen auf einmal, rauschte an einer Gestalt vorbei, die sich im Hauseingang herumdrückte und war endlich aus der Tür.

Die Winterluft wusch sie rein vom Muff des Hausflurs nach ungewaschener Kleidung, kaltem Feuer und Essensresten. Sie trat hinaus auf die Straße, die an diesem Vormittag erfreulich ruhig vor ihr lag. In ihrer Tasche knisterte das Papier, dass sie gestern Abend nach der Operette noch verfasst hatte. Zeit, es zu Geld zu machen. Dafür würde sie sich der Unterwelt Edinburghs jedoch noch weiter nähern müssen, als nur dem Erdgeschoss ihres eigenen Hauses. Sie lief die Straße hinunter und bog dann in Warriston’s Close ein, wo unzählige Treppenstufen zwischen zwei eng beieinander stehenden Häusern nach oben führten, dann auf der High Street an St Giles vorbei, dessen Kirchturm am heutigen Tag von dicken Rauchschwaden verdeckt war und über die Victoria Street hin zum Grassmarket.

Josephine schenkte den Menschen um sich herum keine Beachtung. Hier gab es nur gewöhnliches Volk, ohnehin war das die falsche Tageszeit, um vielleicht doch einem verirrten Parlamentarier oder Adligen zu begegnen, der im Schutz der Dunkelheit in den Etablissements der Gegend auf der Suche nach Vergnügung war. Als sie den Grassmarket betrat, wäre sie fast von einer Kutsche überfahren worden. „Pass doch auf!“, schimpfte sie den Kutscher an, der ihr im breitesten Schottisch nur ein „Sorry wee lassie, didn‘ see ye there!“ zurief. Sie sah sich um, trat einen Schritt zurück und hielt dann inne, um den Blick auf den Schlossberg zu genießen. Man musste die Häuser im Vordergrund ignorieren, die sich wie unordentlich ineinander gestapelte Kisten um den Platz drängten, die kreuz und quer gespannten Wäscheleinen, Stapel von Heu und anderen Unrat, der das Pflaster verdreckte. Was für ein fürchterlicher Ort, der doch so wunderbar gelegen war, überlegte sie. Das Schloss hüllte sich zwar geheimnisvoll in Nebel, doch seine Silhouette und der zerklüftete Fels darunter waren deutlich zu sehen.

Der Rest des Platzes war eine Zumutung für Augen, Ohren und Nase, die es schnellstmöglich hinter sich zu lassen galt. Vor dem Last Drop – einem Pub, dessen Name an die schaurige Vergangenheit des Grassmarket als Hinrichtungsstätte erinnerte – lagen mehrere Gestalten, einige an die Hauswand gelehnt, andere ausgestreckt im Schlamm. Josephine wusste, dass die Wohnsituation hier am fürchterlichsten war: Ein Zimmer von der Größe ihrer Schlafkammer wurde üblicherweise von bis zu zwölf Menschen bewohnt, viele hatten keine Badezimmer in ihren Häusern und, dem Gestank aus den Hinterhöfen zu folgern, auch keine Toiletten. Man müsste spezielle Schuhe haben, um her zu kommen, überlegte sie und nahm sich vor, beim nächsten Einkaufsbummel in der Neustadt daran zu denken. Ein altes, ausgetretenes Paar könnte ich dann tragen, aber vielleicht lege ich mir gleich ein ganzes Grassmarket-Ensemble zu, dachte sie amüsiert. Das hätte immerhin den Vorteil, sich an diesem Ort nicht so stark abzuheben und dadurch der ständigen Belästigung durch Bettler, Betrunkene oder sonstigem Gesindel ausgeliefert zu sein.

Endlich hatte sie das Ende des Platzes erreicht. In einer Seitenstraße befand sich das Ziel ihres Fußmarsches: Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich hin zu einem weitläufigen Innenhof, in dessen Zentrum ein Gebäude mit zwei Seitenflügeln lag, das sich alle Mühe gab, über seinen eigentlichen Zweck hinwegzutäuschen. Hier befand sich eines der größten Armenhäuser der Stadt. Immerhin umgab dieses hier nicht die Aura eines Gefängnisses wie bei den Kästen an der Canongate, fiel es Josephine ein. Einige der Armen durften sich im Innenhof aufhalten, zahlreiche Kinder spielten im Schnee und sogar einen kleinen Schneemann, der seine Ärmchen aus dürren Zweigen fröhlich in die Luft streckte, sah sie. Am Eingang angekommen, blickte sie die Fassade nach oben, auf das pompöse Portal, das einem Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert nachempfunden war. Ein reicher Baronet hatte es in der Hoffnung errichtet, hier viele armen Seelen zu retten. „Schon etwas zynisch, dann ‚vitam dirigat‘ – ‚Er lenkt das Leben‘ – in die Fassade eingravieren zu lassen“, dachte sie, „Zum Glück sprechen die meisten hier kein Latein, sonst müssten sie sich jeden Tag darüber den Kopf zerbrechen, was sie Gott getan haben, dass er sie hierhin gelenkt hat.“

Von einem nahen Kirchturm schlug es zwölf und wie auf ein lautloses Kommando trat ein Junge hinter einer Säule hervor. Er war keine fünfzehn Jahre alt, das Gesicht voller Sommersprossen und büschelweise rotes Haar spitzte unter seiner Kappe hervor. „Einen wunderschönen guten Tag, Miss Fairchild“, trompetete er und machte dabei einen albernen Knicks. „Hör auf mit dem Quatsch, William“, flüsterte sie und setzte nach: „Und wenn du mich noch einmal mit meinem richtigen Nachnamen ansprichst, wird das unser letztes Treffen gewesen sein.“ Der Junge lachte. „Ach ja – Miss McLevy“, sagte er und verbeugte sich ein weiteres Mal, wobei seine Kopfbedeckung in den Schnee fiel. Er fischte sie vom Boden und klopfte sie sauber, dann zog er sie schief in die Stirn und setzte einen verwegenen Gesichtsausdruck auf. „Welchen Auftrag darf ich heute zu Ihrer allergnädigsten Zufriedenheit ausführen, verehrte Dame?“ Josephine schüttelte den Kopf und zog ihn zur Seite, damit sie außer Hörweite anderer Leute waren. „Einen Spaßmacher kann ich billiger haben, als dafür über den widerlichen Grassmarket herkommen zu müssen“, schalt sie ihn, „und wenn du unsere Vereinbarung nicht ernst nimmst, suche ich mir einen der anderen aus. Ich bin mir sicher, die stehen Schlange für ein halbes Pfund in der Woche.“ Natürlich würde sie nicht auf seine Dienste verzichten, er brachte alles mit, was sie sich von einem Laufburschen wünschen konnte: Er war pünktlich, zuverlässig und stellte ihre Aufträge nicht ständig in Frage, zugleich stahl er nicht und hatte sie bislang nicht für Geld verraten, obwohl es ihm angeboten worden war. So jemand war schwer zu finden.

Aber nun war es William, der sich erschrocken umsah. „Miss, bitte – nicht so laut! Wenn die anderen herausfinden, dass ich ein halbes Pfund …“ Sie unterbrach ihn. „Gut, schön dass wir uns verstehen. Du musst für mich zu Town Topics gehen und das hier übergeben. Fünfzehn Pfund ist unsere Forderung, lass dich nicht auf weniger als elf ein. Wenn es sein muss, drohe ihnen, damit zur Illustrated News zu gehen, falls sie dich für dumm verkaufen wollen. Sei selbstbewusst, die Informationen sind es wert. Ein Pfund davon kannst du behalten, den Rest bringst du direkt auf dem Rückweg zu meinem neuen Buchhalter in die New Street.“ William sah sie erstaunt an. „Nicht mehr in die Blackfriars Street zu Mister Murray?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Mister Murray steht nicht mehr in meinen Diensten.“

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