Dritter Dezember

Josephine

Nicht zu glauben, wozu Menschen fähig waren! Josephine bückte sich und kehrte mit einem geschickten Handgriff einen kleinen Stapel zerknüllte Taschentücher auf. Teure Stoffe waren das, mit Spitzenrand – mit Lippenstift verschmiert und achtlos weggeworfen. Dann widmete sie sich dem üppigen Rotweinfleck auf den Samtpolstern. Was für Ferkel in dieser Loge gesessen hatten! Ein Platz in diesem Balkon kostete nahezu ein Vermögen. Nun, Manieren konnte man sich allem Anschein nach nicht mit Geld kaufen. Glücklicherweise waren die Kissen burgunderrot, sodass der Fleck auf dem Stoff schon nicht mehr sichtbar war. „Molly, kommst du?“ Eine dünne, spitznasige Frau steckte ihren Kopf durch die dicken Vorhänge in die Loge. „Bin schon fertig“, sagte Josephine, packte die Putzutensilien zusammen und richtete ihre Schürze. Die Eile war gerechtfertigt, die Aufführung begann bald.

Nur eine halbe Stunde später stand sie, im Livree einer Kellnerin, neben einem Tisch, der sich unter der Last der darauf stehenden Häppchen geradezu bog. Mit der rechten Hand balancierte sie ein Tablett mit Champagnergläsern, mit der linken richtete sie ihre hochgesteckten Haare. Mittlerweile war der Saal gut gefüllt, lauter Menschen der feinen Gesellschaft, die darauf warteten, die Aufführungen der Piraten von Penzance zu sehen. Josephine setzte ein starres Lächeln auf und zwängte sich mit ihrem Tablett durch die Menge. Da standen sie alle, gepudert, korsettiert und schlürften umständlich ihren Champagner, wartend auf eine Komische Oper, pah! Rossini sollten sie spielen! „Gib‘ noch einen, Mädchen“, sagte ein älterer Herr im Smoking. Die spitzen Enden seines Vatermörderkragens stachen ihm in die roten Wangen, von einem Hals keine Spur. Wie höflich Sie heute sind, Councelor MacPherson, dachte Josephine. Leise pfiff sie die Melodie von „Pour, oh Pour the Pirate Sherry“, während sie weiterging. Verfluchte Operette, jetzt hatte sie auch noch einen Ohrwurm.

Ein Klingeln ertönte, der Saal leerte sich. Josephine lächelte den Gästen mit stoischer Geduld hinterher, bis diese den Raum verlassen hatten, dann lockerte sie ihr Gesicht. Während sie gemeinsam mit den anderen Mädchen das Büffet abräumte, ertönte das zweite Klingeln. „Ich gehe eine neue Schürze holen, meine ist völlig verklebt und ruiniert mir das Kleid“, warf sie zu ihrer Vorarbeiterin hinüber, die nickte nur. Kaum aus dem Raum, warf sie die Schürze auf einen Sessel. „Ah, heute sind wir wohl Kellnerin?“, ertönte da eine Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum. Ach, schon wieder dieser Journalist, wie lästig. „Sie mögen es nicht glauben, aber ich habe Sie den ganzen Abend in den Salons dieser Stadt gesucht“, sprach er weiter, „wer hätte gedacht, dass ich hier unter dem Personal fündig werde.“ „Sie sind zu spät“, fauchte sie zurück, „Ihre Operette fängt in wenigen Minuten an.“ „Ich denke, die Piraten können den Sherry schon einmal ohne mich eingießen“, sagte Ewan Cunningham, „ich muss Sie dringend sprechen.“ Josephine sah sich um. „Nicht hier“, antwortete sie dann, „kommen Sie mit.“

Sie führte ihn durch einen schmalen Gang. Im Kostümlager würde heute Abend definitiv niemand sein. Hinter der Doppeltür lag der dunkle Raum, sie schaltete die Beleuchtung an, es klickte und das Gaslicht flackerte auf. „So, was wollen Sie von mir?“, fragte sie. Der Journalist zog eine Zeitung aus der Tasche, es war die neueste Ausgabe der Edinburgh Evening News. Druckfrisch, wenn sie die Tinte an seinen Fingern richtig deutete. Er schlug das Blatt auf und hielt es ihr hin. „Rätselhafte Umstände um tragischen Todesfall im Water of Leith: Mysteriöses Ableben eines Buchmachers“, las sie. „Malcolm Murray“, sagte Ewan Cunningham, „kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?“ „Sollte er?“, gab sie zorniger zurück, als sie wollte und verschränkte herausfordernd die Arme vor der Brust. Er wusste nichts, stocherte im Nebel. Cunnigham trat einen Schritt auf sie zu. „Spielen Sie nicht die Unschuld vom Lande, Miss Fairchild. Ich kenne Ihre Spielchen mittlerweile, aber dieses Mal haben Sie sich verzockt. Der Mann hat sich das Leben genommen.“ „Das steht so zu lesen“, erwiderte sie, „aber ich wüsste nicht, was sein Tod mit mir zu tun haben sollte. Sie etwa?“

Cunningham schnaubte und nun zeigten sich Anzeichen von Wut in seinem sonst ausgeglichenen Gesicht. „Sie denken, das ist alles nur ein großer Spaß, oder? Ich habe wirklich viele Arten von Menschen getroffen, große wie kleine, aber Sie sind mit Abstand die rücksichtslose, selbstgefälligste und …“ „Muss ich mir diese Kränkungen anhören? Ich muss arbeiten“, unterbrach sie. „Ach ja, Sie sind ja Kellnerin“, lachte er schal, „und wo kann man Sie morgen treffen? In Prestonfield House als Zimmermädchen?“ „Sie treffen mich definitiv nirgendwo. Einen guten Abend.“ Damit verließ sie ihn, schaltete im Gehen das Licht aus und knallte die Tür hinter sich zu. Sollte der Kerl doch im Dunkeln nach dem Ausgang tasten, immerhin kam er dann nicht so schnell hinter ihr her.

Wenige Minuten später hatte sie sich wieder beruhigt. Wie albern das doch ist, dass ich mich von so einem kleinen Mann aufregen lasse, dachte sie. Erhobenen Hauptes schritt sie durch den Gang, schnappte sich im Vorbeigehen ihre Schürze und steuerte dann auf die Garderobe zu. „Los Kitty, hol dir doch etwas vom Büffet“, sagte sie zu dem Mädchen, was dort stand. „Ist es noch nicht abgeräumt?“, fragte die Kleine und ihre Augen leuchteten. „Nein, ich komme gerade von dort“, antwortete sie und schob sich hinter den Tresen. Ohne noch einen Moment zu zögern, war Kitty verschwunden. Gut, nun hatte sie mindestens fünf Minuten. Josephine konzentrierte sich. Den hellgrauen Mantel mit Silberfuchsfell erkannte sie sofort. In der Tasche fand sie eine Fünf-Pfund-Note – wie verführerisch, doch sie wollte Kitty nicht kompromittieren – und ein verziertes Zigarettenetui. Josephine klappte es auf und fuhr mit dem Nagel vorsichtig am grünen Samtfutter entlang. Die Einlage löste sich und da – ein Zettel kam zum Vorschein. Sie faltete ihn auf und las. Wie dumm, wie dumm. Wer Affären hatte, sollte seine Spuren besser verwischen. Und seine geheimen Liebesbriefe vor allem nicht mit vollem Namen unterzeichnen. Aber das war bei aufgeblasenen Stadtschreibern ja auch kein Wunder. Diese Information würde sich der Kollege bei Town Topics eine Menge kosten lassen.

Ähnliche Beiträge