Ewan
Der Nebel hing in dicken Schwaden über dem Fluss. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, dabei war der Morgen schon halb verstrichen. Die Haushaltshilfen waren schon vor einigen Stunden durch die dunklen Straßen gehetzt und was die Fabrik- und Hafenarbeiter betraf, für die war beinahe schon Zeit für die erste Pause. Nur die Kutschen rollten noch klappernd über das Pflaster – darin sitzend jene, die es sich leisten konnten, in aller Ruhe beim Frühstückstoast die Zeitung zu studieren. Mindestens hatte man den Scotsman zu lesen, dann griffen die Konservativen zum Daily Telegraph oder der Times aus London, wohingegen jene, die mit Frauenrechten und der Arbeiterklasse sympathisierten, wohl eher den Manchester Guardian bevorzugten. Begleitet von den Neuigkeiten des Tages strebten diese feinen Gentlemen nun ihren Büros, Kontoren, Bankhäusern und Chefsesseln zu, vor ihnen ein langer Tag voller Pfeifenrauch und schwierigen Entscheidungen.
„Banker müsste man sein“, dachte Ewan Cunningham grimmig, während er seine Hände tiefer in die Taschen seines Tweedmantels grub. Die würden sich nie in der Situation wiederfinden, an einem kalten Dezembermorgen frierend durch den Schnee am Ufer des Water of Leith entlang zu stapfen. Vor einer halben Stunde war er durch ein lautes Klopfen aus dem Schlaf gerissen worden, er hatte sich den Morgenmantel übergeworfen und in ein bekanntes Gesicht mit rotgefrorenen Wangen geblickt. Der Junge war zuverlässig, Ewan konnte sicher sein, dass er oder einer seiner Freunde die Polizeistation überwachte und ihn informierte, sobald die Jungs in Blau ausrückten. Einen Shilling ließ er sich das pro Woche kosten, kein schlechtes Gehalt für ein Waisenkind, das abseits von Tabak und der gelegentlichen Packung Lakritze keine Ausgaben hatte.
In der Ferne pikten die spitzen Türme der Stadt aus dem Dunst. Beinahe romantisch, überlegte Ewan, wenn es denn watteweicher Morgennebel wäre. Stattdessen war es vor allem der Rauch der Fabrikschlote, vermischt mit ekligem gelben Qualm aus tausenden Schornsteinen, wo die weniger gut Betuchten Wer-weiß-was verbrannten. In der Ferne sah er eine Gruppe Polizisten stehen – gut, immerhin war er in die richtige Richtung unterwegs. Die Bobbies standen in einer kleinen Traube um etwas, das auf dem Boden lag. Als er näher kam, erkannte Ewan, dass da jemand lag, abgedeckt von einem braunen Laken. Einer der Polizisten hockte daneben und lüftete das Tuch. Sie sprachen gedämpft miteinander, er konnte ihre Worte nicht verstehen.
„Schönen guten Morgen, die Herren“, begrüßte sie Ewan, als er nah genug herangekommen war. Sie froren sichtlich unter ihren schmucklosen dunkelblauen Umhängen und die harten Helme boten vermutlich ebensowenig Wärme wie ein gusseiserner Kochtopf. Die Gruppe drehte sich zu ihm um. „Ach, Sie schon wieder, Cunningham“, knurrte ein schnauzbärtiger Mann. Er war anders gekleidet als seine uniformierten Kollegen, trug einen schwarzen Wollmantel und eine Melone. „Sie glauben wohl an Mord?“, fragte ihn Ewan ohne Umschweife und blickte auf das Laken, an dessen Ende zwei braune Schuhspitzen herausschauten. „Mord? Nun lassen Sie uns erst einmal ermitteln, bevor Sie vor dem Mittagessen mit solchen großen Worten um sich werfen.“ „Würde ich sonst gerade dieses Gespräch mit Ihnen führen, wenn nicht mindestens der Verdacht im Raum stände, Detective Officer?“ Ruaridh MacKay verzog das Gesicht, dann blinzelte er. „Cunningham, Sie sind mir auf nüchternen Magen zu spitzfindig.“ „Nun, Sir, das gehört zu meinem Beruf“, gab Ewan zurück: „Kommen Sie schon, können Sie mir nicht ein paar Informationen geben, was hier geschehen ist? Unsere Leser werden sonst ihre eigenen Theorien aufstellen.“
MacKay zögerte, dann bellte er ein paar Befehle. „Pike, Tulloch – Leiche zum Royal College bringen! Paterson – Sie gehen mit denen mit und kümmern sich um den Papierkram! Der Rest – aufräumen!“ Dann wies er mit seinem Gehstock auf den Trampelpfad hinauf zur Brücke und bedeutete Ewan auf diese Weise, ihn zu begleiten. „Vielen Dank für Ihr Vertrauen“, begann der, als sie außer Hörweite waren, doch der Polizeimann fuhr ihm über den Mund. „Halten Sie die Klappe, Cunningham – ich spreche vor allem mit Ihnen, weil ich es leid bin, neben Verbrechen auch noch Desinformation in den Straßen bekämpfen zu müssen. Sie werden die grundlegenden Fakten ohnehin herausfinden. Außerdem sind Sie einer der wenigen Schmierfinken, der gelegentlich etwas Lesbares produziert.“ Ewan lächelte, schwieg aber. „Also“, fuhr MacKay fort, „der Mann heißt Malcolm Murray. Führt ein kleines Kontor in der Blackfriars Street. ‚Führte‘, wäre wohl die angemessene Zeitform. Um es gleich zu sagen, ich gehe nicht von einem Gewaltverbrechen, sondern von Freitod aus.“ „Warum nicht?“, wagte Ewan zu fragen. MacKay zog ein Stück Papier aus der Manteltasche. „Weil es einen Abschiedsbrief gibt“, gab er zurück, „der Mann ist aus Verzweiflung gesprungen.“ Ewan war fast ein wenig enttäuscht. „Aus welchem Grund? Liebeskummer?“ Der Detektiv schüttelte den Kopf. „Nein, er schreibt etwas von ‚Wahrheit, die ohnehin ans Licht kommen würde‘ und einem ‚Preis, den er nicht bezahlen kann‘. Um ehrlich zu sein, dachte ich im ersten Moment an Erpressung, auch wenn ich durch so manchen Abschiedsbrief in meiner Polizeikarriere weiß, dass Selbstmörder zum Melodramatischen neigen.“ „Würde das nicht einem Tod durch fremde Hand gleichkommen? Wenn ihn jemand in den Selbstmord gezwungen hat, weil er sonst etwas aufgedeckt hätte?“
Sie waren mittlerweile auf der Brücke angekommen. Eine Gruppe Polizisten stand dort und wartete auf ihren Detective Officer. Der zwinkerte Cunningham zu: „Nun, mein Lieber – da ich diesen Verdacht nur auf Mutmaßungen und wilde Spekulation stützen kann, haben wir hier den seltenen Fall, in dem meine Zuständigkeit endet und die Ihre beginnt. Einen schönen Tag noch!“ Damit drehte er sich zu seinen Untergebenen um und die Unterhaltung war beendet.
Ewan Cunningham hatte sich schon auf halbem Weg zur Redaktion begeben, da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Falls sie ihre Finger im Spiel hatte, war sie definitiv zu weit gegangen. Nun, um sich zu vergewissern, würde er sie aufsuchen müssen. Doch bevor die feinen Salons und Clubs ihre Türen öffneten, brauchte er es gar nicht erst zu versuchen.