Dreizehnter Dezember

Josephine

Der Regen hatte seit dem Morgen nicht mehr aufgehört, sich über der Stadt zu ergießen. Über Edinburgh hing eine graue Wolkendecke, die einem das Gefühl gab, die Sonne sei nicht richtig aufgegangen. Josephine blickte aus dem Fenster und betrachtete das Wasser, das unaufhörlich in Rinnsalen an der Scheibe entlanglief und sich auf der Straßen in breiten Pfützen sammelte. An manchen Stellen überschwemmte es bereits den Bordstein. Sie beobachtete belustigt, wie feine Herren und Damen versuchten, trockenen Fußes die Geschäfte zu erreichen, die die verwinkelte Altstadtstraße säumten.

Sie hingegen saß im Warmen und genoss ihren Nachmittagstee. Dieses kleine Café war genau der Ort, an dem man sich an einem verhangenen Tag wie diesem aufhalten musste. Insgesamt war Josephine sehr zufrieden mit sich. Den Vormittag hatte sie damit verbracht, ihr Spinnennetz, wie sie es im Stillen nannte, zu pflegen. Insgesamt waren das etwa fünfzig Hausmädchen, Kellner, Dienstboten, Schuhputzer, Bardamen und Zugehfrauen aus den verschiedenen besser gestellten Haushalten und Bezirken der Stadt. Jede einzelne Person hatte Josephine sorgfältig ausgewählt und die Kontaktaufnahme von langer Hand geplant. Einige waren leichter zu überzeugen, andere brauchten etwas Motivation. In manchen Haushalten musste sie zunächst selbst einige Wochen arbeiten, um das Vertrauen der anderen Angestellten zu gewinnen. Bei anderen half nur rohe Bestechung – doch es war ihr bei allen gelungen. Nun zog sich ihr Netz über die ganze Stadt und bot die Möglichkeit, auch in den privatesten Bereichen vielversprechende Fänge zu machen.

Ein Kellner brachte ihr eine Platte mit Häppchen, darunter kleine Sandwiches mit Ei und Anchovis, mehrere Scheiben Kümmelkuchen, dazu etwas Obst und Scones mit Clotted Cream und Erdbeerkonfitüre. Josephine genehmigte sich noch einen großen Schluck Tee und bestellte gleich eine weitere Kanne. Dann widmete sie sich dem Essen, während ihre Gedanken zu den Ereignissen des Vormittags zurück schweiften.

Kurz nach Mittag, nachdem sie den Großteil ihrer Freundschaftsbesuche abgeschlossen hatte, war sie zum vereinbarten Treffpunkt mit William aufgebrochen. Der Junge sollte ihr berichten, wie er die ersten Arbeitstage im Haus von Sir Richard Douglas erlebt und welche Erkenntnisse er vielleicht bereits gesammelt hatte. Sie hatten vereinbart, sich in der St Giles-Kathedrale zu treffen und angesichts des Wetters war Josephine froh, nicht auf einem anderen Ort bestanden zu haben. Sie fröstelte, als sie das gewaltige Gotteshaus betrat. Eine Luft wie in einem kalten Keller war das, anscheinend fühlte sich keiner verpflichtet, hier drin einmal zu heizen. Bei der dritten Reihe von hinten blieb sie stehen und setzte sich in die Kirchenbank. Sie war ein wenig zu früh und ihr blieb noch etwas Zeit, ihre Umgebung zu studieren. Die farbigen Gläser in den Fenstern stellten verschiedene Szenen der Bibel dar und als Josephine mit den Augen die Reihen entlang fuhr, blieb ihr Blick an einer Darstellung des Jesus am Kreuz hängen. Auf der anderen Seite der Scheibe liefen die Regentropfen herab, so sah es aus, als ob ihm Tränen über die Wangen liefen. Wie malerisch“, dachte Josephine. Für das Christentum hatte sie nie viel übrig gehabt, ihr waren die griechischen Götter sympathischer. Mit ihren Eitelkeiten und Intrigen waren sie den Menschen doch sehr ähnlich.

William kam pünktlich, hatte jedoch kaum Neues zu berichten. Man hatte ihn noch nicht in den Zirkel jener Bediensteter aufgenommen, die sich um den Concordia Club kümmern durften. Er konnte ihr lediglich die Namen einiger hochrangiger Politiker und wohlhabender Unternehmer nennen, die in Richard Douglas‘ Haus auch noch zu später Stunde ein und aus gingen. Dies war jedoch kein Beweis, zumindest keiner, den Josephine zu Geld machen konnte. Als sie das Gespräch beenden wollte, um einer möglichen Unterkühlung in dem kalten Gotteshaus zu entgehen, bemerkte sie, dass William ansetzte, um etwas zu sagen. Was ist denn noch?, fragte sie in einem rabiateren Ton, als sie beabsichtigt hatte. Der Junge zögerte. Miss … ich würde gern nicht mehr für Sir Richard arbeiten. Sie sah ihn erstaunt an. Aha – und warum nicht? Hast schon genug Geld zusammen für eine Passage nach Amerika? Das war grausam, das wusste sie. Aber sie konnte dieses Querulantentum jetzt nicht gebrauchen. William schüttelte den Kopf. Ich habe das Gefühl, ich werde verfolgt. Seitdem ich dort arbeite … stellt man mir auf dem Heimweg nach.

Josephine hatte nachdenklich die Stirn gerunzelt, dann nickte sie. Verstehe – also es ist so: Es gibt eine Kommission, die ins Leben gerufen wurde, um die Aktivitäten rund um dieses Haus zu beschützen. Sie werden wohl Handlager auf das Personal angesetzt haben. Mach dir also keine Sorgen – solange du nach der Arbeit auf keinen Fall zu mir kommst!, fügte sie hinzu. Den Jungen schien sie damit nicht überzeugt zu haben. Miss, einer meiner besten Freunde ist seit mehreren Tagen verschwunden. Ich möchte auf keinen Fall enden wie die vielen Kinder aus den Waisenhäusern… Josephine unterbrach ihn, indem sie sich abrupt erhob. Sie war heute zu gut gelaunt, um sich mit solchem Unsinn auseinandersetzen zu müssen. Pass auf William – mach deinen Job, so wie du ihn immer tust und dann wird dich niemand behelligen. Sei aufmerksam und lass dich nicht beim Schnüffeln erwischen. Wenn du dich lange genug bedeckt hältst, werden sie irgendwann einsehen, dass sie sich nicht für dich interessieren müssen. Sie gab ihm ein paar Schillinge, die er schnell, ohne das Geld anzusehen, in die Jackentasche gleiten ließ. Dann ist ja alles klar“, sagte sie: Du brauchst mich nicht zu kontaktieren – ich kontaktiere dich. Damit hatte sie die Kirche verlassen.

Trotz aller Bemühungen hatte ihre Laune nach diesem Gespräch einen Dämpfer erhalten. Nun half nur noch ein Besuch in einer Teestube bei heißem Earl Grey und hervorragendem Gebäck. In der Cockburn Street hatte sie ihren üblichen Laden voller vorgefunden als sonst, ergatterte aber dennoch einen Tisch in der Nähe des bodentiefen Fensters. Als sie in eine Scheibe herrlich aromatischen Kümmelkuchen biss und den Blick auf die verregnete Straße hinaus schweifen ließ, verzogen sich die Wolken um ihre Stirn und der Weg lag klar vor ihr. Sir Alastair und William – zwar waren es zwei Männer, von denen sie sich abhängig machen musste, aber sie würde es tun. Mit dem einen würde sie bis vor die Türen des Concordia Clubs gelangen und warten, bis der andere sie von innen weit aufstieß.

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